Vor zwanzig Jahren galt das Digitalgeschäft als wenig sexy – die New Economy Blase war gerade geplatzt. Heute ist es genau umgekehrt: Wer nicht digital ist hat ein Problem, die Corona Krise hat dies mehr als deutlich der gesamten Gesellschaft vor Augen geführt. Wir sprechen im aktuellen Interview mit ETribes Co-Gründer Arne Stoschek, der aktuell mit den MINDSET MOVERS ein neues Unternehmen und Podcast Format aufbaut. Wir unterhalten uns unter anderem über die folgenden Themen:

Viel Spaß beim lesen!

Christian/Rene: Vor 20 Jahren war die große Investmentbankerkarriere noch das Non-Plus-ultra, der Berufseinstieg in ein Start-up hingegen nahezu verpönt, insbesondere der Digitalbereich wurde mit dem Platzen der New-Economy-Blase als kritisch und unsicher angesehen. Was hat sich in den letzten Jahren geändert und wo stehen wir heute?

Arne: Früher dominierte die Haltung, dass eine Karriere neben Kontinuität vor allem auch Reputation und Sicherheit bedeuten sollte. Allerdings gibt es diese Sicherheit schon viel länger nicht mehr. Auch große Unternehmen wie Lehman Brothers, Morgan Stanley oder Karstadt/ Quelle haben teilweise oder im großen Stil Jobs ausgelagert, rationalisiert oder ganze Konzernsparten verkauft. Und was viel wichtiger ist: Die Reputation von Unternehmen hat sich umgekehrt. Alleine mit dem Wort Konzern assoziieren junge Menschen häufig etwas negatives und einen leicht angestaubten Charakter. Kaum jemand, der sich für progressiv oder agil hält, möchte in so einem Setting arbeiten und von dieser angestaubten Kultur umgeben sein. Leistungsorientierte Berufseinsteiger suchen nach agilen Mindsets und nach Menschen, die den Status quo herausfordern. In den klassischen Konzernen trifft man häufig eine „besitzstandswahrende“ Haltung an. Deshalb glaube ich, dass sich leistungsorientierte Menschen eher bei digitalen Unternehmen oder Start-ups sehen. Zudem hat sich noch ein weiterer Aspekt entwickelt. Viele Start-ups sind heute ja keine Mini-Unternehmen mehr wie zur Zeiten der New Economy. Wir haben mittlerweile ein sehr gut funktionierendes Start-up-Ökosystem.

Christian/Rene: Die „digital Challenger“ entfalten nach deiner Einschätzung eine Art Sogwirkung. Wie kann ein Unternehmen so eine Sogwirkung aufbauen?

Arne: Zunächst einmal glaube ich daran, dass Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil im Recruiting haben, wenn sie eine solche Sogwirkung entfalten. Rocket Internet ist das z. B. gelungen und zwar vor allem durch Klarheit, ihren Leistungsanspruch und ihrer Ambition. Sie haben ganz eindeutig ausgestrahlt, dass sie erfolgreich sein und Unicorns etablieren möchten. Der kreative Chi-Chi-Part war ihnen hingegen nicht so bedeutsam. Es geht nicht darum, einzigartige Geschäftsmodelle zu erfinden, sondern funktionierende Modelle so gut zu exekutieren, dass sie die größten werden. Ich glaube, Rocket hat sehr, sehr früh verstanden, dass das „Winner takes it all-Paradigma“ in fast allen Wirtschaftsbereichen der digitalen Gesellschaft Gültigkeit hat. Wir brauchen nicht fünf verschiedene Suchmaschinen, nicht zehn verschiedene Social Networks und auch nicht zwanzig verschiedene Onlineshops für Fashion. In ganz vielen Bereichen setzt sich einfach der Größte oder die größte Plattform durch und diese Ambition hat Rocket unverschnörkelt artikuliert und damit sehr viele Menschen angezogen, die dieses Leistungs-Mindset teilen. Es gab ja auch diese Copycat-Kritik: Ich bin der festen Meinung, das ein Geschäft nicht besser oder relevanter wird, nur weil es einzigartig ist – es muss einfach das Beste sein!

Inwieweit ist so eine Sogwirkung replizierbar?

Arne: Bei Etribes haben wir das auf einem deutlich niedrigeren Niveau auch geschafft. Daher würde ich sagen: Ja, es ist replizierbar. Bei Etribes waren es die Menschen, die die Sogwirkung entfaltet haben. Da waren einfach ein kleiner Pool von schlauen und erfolgreichen Menschen, die wiederum Menschen mit einem ähnlichen Mindset angezogen haben. Das Wertversprechen ist eine steile Lernkurve und in Kombination mit den Menschen ist es vergleichsweise einfach, die richtigen Profile anzuziehen. Menschen, die ein steile Lernkurve wollen, fühlen sich von einem leistungsorientierten Umfeld angezogen. Ich glaube aber nicht, dass unser Rezept 1:1 für alle Unternehmen gilt, da die Unternehmen und Menschen einfach unterschiedlich sind und sich von unterschiedlichen Dingen angezogen fühlen.

Christian/Rene: Nicht jeder kann jetzt Tarek Müller onboarden, um dann eine Sogwirkung auf der personellen Ebene zu entfalten. Was rätst Du diesen Unternehmen?

Arne: Du brauchst eine gewisse Ambition und einen USP. Eine große Ambition kann eine Sogwirkung entfalten. Es darf auf den ersten Blick auch ein wenig unrealistisch erscheinen, nimm z. B. die Marsvision von Elon Musk. Aber ich glaube, dass eine solche Ambition Kräfte und Ideen freisetzen kann, von denen wir vorher gar nicht gewusst haben, dass es diese Ideen gibt und das sie realistisch sind. Ich denke hier z. B. an die Raketen von SpaceX, die nach dem Start sicher zu Erde zurückkehren. Natürlich ist Elon Musk noch nicht auf dem Mars, er setzt aber Schritte in diese Richtung und handelt kongruent. Da ist jemand der Dinge umsetzt und abliefert. So etwas zieht Menschen an, sie arbeiten gerne mit ambitionierten Menschen zusammen. Das Zweite ist das Alleinstellungsmerkmal. Unternehmen, die seit mehreren Jahren erfolgreich Kunden bedienen, müssen irgendetwas können oder beherrschen, was sie besser können als die meisten anderen. Sonst wären sie nicht mehr existent oder zumindest nicht so erfolgreich. Diese „Exzellenz“ in einem bestimmten Bereich ist ebenfalls für viele Menschen anziehen, da sie ähnliche Interessen haben.

Christian/Rene: Es gibt auch eine Gruppe von Menschen die sich nicht so sehr mit harter Arbeit und Leistungsorientierung identifizieren. Wie passen die in dieses „Leistungsbild“?

Arne: Vielleicht sollten diese Menschen die Partei wählen, die auf das bedingungslose Grundeinkommen setzt (lacht). Spaß beiseite. Ich glaube, dass alle Menschen gerne für Dinge einstehen, die sie wirklich bewegen. Und wenn jemand in seinem Status eher freizeitorientiert ist oder nicht so gerne arbeitet, dann hat er vielleicht auch noch nicht das gefunden, wofür er wirklich brennt. Ich habe ausnahmslos bei allen Menschen in meinem Umfeld wahrgenommen, wenn man für ein Thema wirklich brennt, dann arbeite ich gerne, dann nehme ich das auch nicht als Arbeit wahr. Es ist dann ehr im Passions- und Berufungsbereich einzuordnen. Um seine Attitüde zu ändern, müsste sich eine im Job unzufriedene Person aus meiner Sicht umorientieren und vielleicht rausfinden, wofür das Herz wirklich schlägt und wofür sie bereit ist, mehr zu leisten, wenn sie denn unglücklich mit dem Status Quo ist. Aus echtem Interesse entsteht in meiner Welt auch immer ein starker Antrieb.

Christian/Rene: Worauf kommt es vor diesem Hintergrund an, wenn man im Digitalumfeld und in einem leistungsorientierten Umfeld – sei es bei Rocket oder Etribes – als Führungskraft agiert?

Arne: Es gibt drei Kriterien, an denen sich eine Führungskraft messen lassen muss. Zum einen ist das die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Eine gute Führungskraft muss dazu in der Lage sein, das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen und sich auch einzugestehen, Dinge nicht richtig gemacht zu haben. Eine echte Selbstreflexion läuft für mich immer nach dem gleichen Schema ab: Ergebnis, Erkenntnis, Korrektur. Ich habe ein Ergebnis, dann hinterfrage ich es, gegebenenfalls alleine oder mit anderen, gewinne eine Erkenntnis daraus und korrigiere ggf. mein Verhalten. Wenn ich als Mensch oder Führungskraft immer wieder Themen habe, die immer wieder falsch laufen, dann muss ich mich hinterfragen. Wo habe ich in der Vergangenheit falsche Schlussfolgerungen gezogen? Was sind die Wurzeln dieser offenbar systematisch falschen Arbeitsweise? Und wie kann ich dieses Verhalten korrigieren? Das ist für viele Führungskräfte die größte Herausforderung. Nach der Selbstreflexion kommt für mich das Thema Lernfähigkeit, zu der es eine einfache Formel gibt. Die Multiplikation aus „Willingness to learn” und “Willingness to accept change” ergibt den Teachability-Index. Wenn einer dieser beiden Werte null ist, dann entwickle ich mich nicht weiter und lerne nichts dazu. Gerade im Digitalbereich müssen diese Werte hoch ausgeprägt sein. Jeder Person muss sich vor Augen führen, dass man immer wieder dazulernen und sich weiterentwickeln muss. Der dritte Punkt ist Empathie, jeder der andere führen will braucht die Fähigkeit mitfühlend mit anderen Menschen zu interagieren. Das fängt mit Selbstempathie an, wie geht es mir und welches Bedürfnis steckt wohl hinter diesem Gefühl. So haben Leader die Chance Konflikte schnelle zu erkennen, diese anzusprechen, aufzulösen und Konflikte auf diese Weise als Erfolgsbeschleuniger zu nutzen.

Christian/Rene: Was kommt auf C-Level noch hinzu?

Arne: Für absolute Spitzen-Führungskräfte ist die „Absicht“ relevant, anderen Menschen zum Wachstum zu verhelfen und sich selbst überflüssig zu machen eine wichtige Kompetenz. Dazu gehört auch die Fähigkeit loslassen zu können.

Christian/Rene: Man liest immer wieder das der Purpose vor diesem Hintergrund sehr wichtig ist, damit sich Menschen besser einbringen und entwickeln können. Inwieweit ist das nur eine Floskel, um das  Beratungsgeschäft anzukurbeln?

Arne: „Purpose“ bzw. „Sinnhaftigkeit“ finde ich nicht nur für den Unternehmenskontext unfassbar relevant. Wir sind in einer Zeit angekommen sind, in der wir in einer TOTALEN Überflussgesellschaft leben, zumindest hier in der westlichen Welt. Wir haben lange keinen echten gesellschaftlichen Mangel erlebt, selbst nicht in der Lehman Brothers-Krise. Die meisten Menschen stehen heute ganz oben auf der Spitze der Maslowschen Bedürfnispyramide und wir leben auf einem ganz anderen Level als in der Nachkriegszeit, den Sechziger- oder in den Achtzigerjahren. Menschen suchen einfach nach Antworten auf die Sinnfragen an der Spitze der Pyramide. Dazu kommt noch eine andere große Entwicklung. Früher gab es noch viel mehr Orientierung durch Institutionen wie die Kirche, die damals noch einen viel größeren Einfluss hatte als heute. Diese Orientierung fehlt heute nicht nur bei den jungen Menschen. Dies führt dazu, dass die Orientierung immer stärker im Bereich Arbeit gesucht und auf den Bereich Arbeit projiziert wird. Also muss Arbeit für junge Menschen nicht nur die Brötchen bezahlen, sondern auch Sinn stiften. Wenn das so ist, dann muss sich konsequenter Weise auch das Marketing und der Marketing-Mix ändern. Das ist aber definitiv keine Marketingaufgabe, sondern eine Geschäftsleitungs- oder sogar Inhaberaufgabe. Nur starke Personen können so ein „Why“ kreieren. Das muss nicht nur heißen, dass wir jetzt alle Delphine retten müssen oder das Plastik aus den Weltmeeren zu fischen. Purpose kann auch einfach bedeuten, dass ich meinen Mitarbeitern oder meinen Partnern einen Sinn biete. Die eben viel zitierte „steile Lernkurve“, die es im Etribes-Umfeld gibt, stiftet den Mitarbeitern beispielsweise einen Sinn.

Christian/Rene: Inwieweit ist es überhaupt realistisch, dass seit Dekaden etablierte Unternehmen sich entsprechend ändern und den Schalter im Kopf umlegen können? Im Kern geht es bei der Digitalisierung ja um das Thema Wandel und die meisten Change Projekte nehmen kein gutes Ende.

Arne: Bei Menschen gibt es immer zwei Gründe sich grundsätzlich zu verändern. Das sind Schmerzen auf der einen Seite oder bestimmte Ziele und Ambitionen auf der anderen Seite. Aktuell führt Corona dazu, dass viele nicht-digitalisierte Unternehmen jetzt die Schmerzen spüren, wenn sie ihr Geschäftsmodell nicht digital weiterentwickelt haben. Immer mehr Menschen merken ja, dass „das kriege ich bis zur Rente nicht mehr ausgesessen“. Natürlich ist es schöner und einfacher, wenn der Antrieb aus der anderen Ecke kommt, aus der Selbstmotivation heraus und der Einsicht, dass die Veränderungen Chancen bieten. Und da bin ich wieder beim Purpose. Aber ich glaube fest daran, dass Menschen sich ändern können. Es gibt zum Beispiel eine Menge Silberrücken, die hätten sich vor einigen Monate noch nicht zugetraut, die gesamte Belegschaft ins Home Office zu schicken und sich nur über Zoom Calls abzustimmen. Jetzt stimmen sie sich 30 Mal die Woche in verschiedenen Calls ab und das sitzt jetzt: Egal ob die Personen dreißig, sechzig oder siebzig Jahre alt sind. Das geht nicht mehr weg.

Christian/Rene: Viele Dank für das spannende Interview!

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